Die Welt der Zahlen aus der Sicht von Kindern, die unter Dyskalkulie leiden
Veröffentlicht am 09.08.2024
Arithmastheniker denken und bewerten anders.
Dyskalkulie, ein Phänomen, das Kindern mit Leistungsdefiziten im Fach Mathematik häufig – manchmal vielleicht auch etwas voreilig – zugeschrieben wird. Was genau versteht man eigentlich darunter?
Bei der Dyskalkulie, auch Arithmasthenie (Rechenschwäche) genannt, handelt es sich um eine so genannte Teilleistungsschwäche. Sie ist eine spezifische Lernstörung, die das mathematische Denken und Verstehen beeinträchtigt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt eine medizinische Klassifikationsliste zur strukturierten und einheitlichen Benennung von medizinische Diagnosen und Behandlungen heraus, den ICD-Code.
Die offizielle, wissenschaftliche Definition der Dyskalkulie laut ICD-10, F81.2 („Rechenstörung“) lautet folgendermaßen:
„Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“
Typische Symptome von Dyskalkulie
Wie äußert sich diese Rechenschwäche? Was geht in Kindern, die unter einer solchen Rechenstörung leiden, beim Umgang mit Zahlen und mathematischen Zusammenhängen vor? Und woran können Eltern das Vorliegen einer Dyskalkulie erkennen, um erforderliche Gegenmaßnahmen einzuleiten?
Prinzipiell charakteristisch ist ein grundlegend verkehrtes Verständnis von den Mengen und Größen, von den Zahlen, dem Stellenwertsystem und mathematischen Operationen. Diese Begriffe sind mit gänzlich falschen Vorstellungen besetzt.
Konkret umfassen die typischen Symptome:
- Fehlendes Gefühl für Ziffern, Zahlen und den Zahlenraum: Kinder mit Dyskalkulie empfinden Zahlen oft als abstrakte Gebilde. Sie haben Schwierigkeiten, ein Gefühl für Mengen und deren Relationen zu entwickeln. Dies führt dazu, dass sie Zahlen nur schwer in sinnvolle Zusammenhänge einordnen können
- Zählendes Operieren und Klammern an Hilfsmittel: Ein häufiges Merkmal ist das zählende Operieren, bei dem Kinder die Finger oder andere Hilfsmittel verwenden, um einfache Rechenaufgaben zu lösen. Und selbst dabei werden oft falsche Zählstrategien verfolgt. Dieses Verhalten zeigt ein fehlendes Verständnis für grundlegende mathematische Prinzipien.
- Unökonomische, kontralogische Verwendung von Veranschaulichungsmitteln: Kinder mit Dyskalkulie neigen dazu, Veranschaulichungsmittel ineffektiv zu nutzen. Sie verwenden beispielsweise Klötze oder Zählhilfen, ohne die zugrundeliegenden mathematischen Konzepte zu verstehen, was zu kontralogischen und unökonomischen Lösungsansätzen führt.
- Die Unfähigkeit zur Erbringung von Transferleistungen: Ein weiteres Kennzeichen ist die Schwierigkeit, gelernte mathematische Konzepte auf neue, ähnliche Situationen zu übertragen. Diese Kinder können zum Beispiel eine gelernte Rechenregel nicht auf eine leicht veränderte Aufgabe anwenden.
- Mangelnde Reflexion und Duldung widersprüchlicher Ergebnisse: Kinder mit Dyskalkulie zeigen oft eine fehlende Reflexion über ihre eigenen Rechenergebnisse. Sie nehmen widersprüchliche oder offensichtlich falsche Ergebnisse hin, ohne diese zu hinterfragen.
- Entwicklung von Kompensationsmechanismen: Um ihre Schwierigkeiten zu bewältigen, entwickeln Kinder häufig Kompensationsstrategien, wie das sture Auswendiglernen von Aufgaben und Ergebnissen, ohne das zugrunde liegende Verständnis zu entwickeln.
- Viel Zeitaufwand, Überanstrengung und Erschöpfung: Die Bewältigung mathematischer Aufgaben erfordert oft übermäßigen Zeitaufwand und führt zu Überanstrengung und Erschöpfung, da die Kinder erheblich mehr Energie aufbringen müssen als ihre Altersgenossen.
Problematische Aspekte bei den Grundrechenarten
Die Schwierigkeiten, die Kinder mit Dyskalkulie erleben, treten besonders beim Erlernen der Grundrechenarten auf [vgl. hierzu auch die oben zitierte Definition]. Diese grundlegenden mathematischen Konzepte sind oft eine große Hürde und führen zu erheblichen Lernproblemen.
Typisch ist ein mangelndes Verständnis von Zahlen und logischen Operationen. Schon zu Beginn der Grundschule zeigen sich Schwierigkeiten im Verständnis grundlegender mathematischer Konzepte. Zahlen werden als isolierte Einheiten wahrgenommen, und die Logik hinter Rechenoperationen bleibt unverständlich. Dabei werden auch Hilfsmittel i. d. R. ohne Verständnis verwendet. Diese werden oft nur mechanisch genutzt, ohne die Bedeutung der dargestellten Mengen zu erfassen. Ein weiteres Problem, das besonders bei der Anwendung der Grundrechenarten zum Tragen kommt, ist die Verwirrung über die Reihenfolge und Struktur von Zahlen, sowohl in gesprochener als auch in geschriebener Form. Zahlendreher und das Verwechseln von Stellen im Dezimalsystem sind häufige Fehlerquellen. Beim Hören zweistelliger Zahlen etwa, wie z. B. „56“, werden oft die Zehner- und Einer-Stellen vertauscht, indem die zuletzt gehörte Ziffer, in diesem Fall also die „6“ zuerst notiert wird.
In Hinblick auf die grundlegenden Rechenoperationen werden von Schülerinnen / Schülern mit Dyskalkulie die Subtraktion und Punktrechnung als besondere Herausforderungen wahrgenommen, da sie ein höheres Maß an Abstraktionsvermögen bzw. ein Verständnis von Mengenverhältnissen und der Struktur des Zahlenraums voraussetzen. Als das größte Mysterium erweist sich dabei meist die Division. Die gängige Definition als „Umkehrung der Multiplikation“ ist für viele Kinder nicht ausreichend, um das Konzept zu verstehen, insbesondere wenn es um den Rest bei der Division geht. Häufige Schülerfehler sind das zufällige Durchkämmen der „1×1“-Reihe oder die Verwechslung mit der Subtraktion („Es wird etwas weggenommen“).
Sekundäre Auswirkungen der Rechenschwäche: Ein Teufelskreis
Die Schwierigkeiten, die Kinder mit Dyskalkulie im mathematischen Bereich erleben, bleiben nicht ohne Auswirkungen auf ihre allgemeine schulische und persönliche Entwicklung. Viele dieser Kinder geraten in einen Teufelskreis aus negativen Erfahrungen und daraus resultierenden negativen Glaubenssätzen.
Die ständigen Misserfolge führen dazu, dass Kinder mit Dyskalkulie das Vertrauen in ihre eigenen intellektuellen Fähigkeiten verlieren. Sie beginnen, an ihrer Intelligenz zu zweifeln und sich selbst als „dumm“ oder „unfähig“ zu betrachten. Dies hat übrigens keinen realistischen Hintergrund, da Kinder, die unter einer Rechenschwäche leiden, erwiesenermaßen in den meisten Fällen über eine normale oder sogar überdurchschnittliche allgemeine Intelligenz verfügen.
Die Misserfolgserlebnisse bringen oft negative Glaubenssätze und einen Motivationsverlust hervor, der in einer allgemeinen Schulunlust und Schulangst gipfeln kann. Die Angst vor weiteren Misserfolgen kann so groß werden, dass die Kinder beginnen, die Schule generell zu meiden oder sich vor bestimmten Fächern zu fürchten. Das wiederholte Erleben von Misserfolgen und die negativen Reaktionen aus dem Umfeld können dazu führen, dass sich Kinder mit Dyskalkulie ein negatives Selbstbild aufbauen. Sie sehen sich selbst als „Versager“, was ihr Selbstwertgefühl erheblich beeinträchtigt.
Geduld und Empathie: Unterstützung für Kinder mit Dyskalkulie
Um Kinder mit Dyskalkulie zu unterstützen, sind Geduld und Empathie von entscheidender Bedeutung. Eltern und Lehrer spielen dabei eine zentrale Rolle. Der Prozess, mathematische Konzepte zu verstehen, kann bei Kindern mit Dyskalkulie sehr lange dauern. Eltern und Lehrer sollten Geduld haben und das Kind ermutigen, ohne Druck auszuüben.
Es ist wichtig, das Kind zu unterstützen und keine Vorwürfe zu machen. Kritik kann das Selbstwertgefühl weiter untergraben und zu einem Gefühl der Resignation führen. Ganz im Gegenteil sollten alle Bemühungen darauf abzielen, das Selbstvertrauen des Kindes stärken, um den oben beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen. Positive Verstärkung und das Feiern kleiner Erfolge können dem Kind helfen, ein positives Selbstbild zu entwickeln.
Eltern sollten Überforderung vermeiden und ihre Ansprüche an das eigene Kind relativieren. Denn überzogene Erwartungen können zu zusätzlichem Stress und Angst führen. Es ist wichtig, realistische Ziele zu setzen und den Fokus auf kleine Fortschritte zu legen.
Möglichkeiten der Intervention und Therapie
Ganz wichtig bei Verdacht des Vorliegens einer echten Dyskalkulie ist es, professionelle Hilfe hinzuzuziehen. Eltern allein sind in diesem Fall überfordert. Und ständiges Üben daheim ist sinnlos, solange die Grundvoraussetzungen für die Verbesserung des mathematischen Verständnisses nicht geschaffen worden sind. Da eine Rechenstörung nicht selten schon in der Grundschule auftritt, sollte eine Intervention möglichst frühzeitig einsetzen.
Am Anfang steht die Diagnose, die die Erstellung eines individuellen, qualitativen Fehlerprofils beinhaltet. Diese wird im Allgemeinen von speziell ausgebildeten Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche anhand von Gesprächen und Tests gestellt.
Eine geeignete Anlaufstelle für die sich anschließende Therapeutensuche kann beispielsweise die Webseite des Bundesverbandes für Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (BVL) sein, der einen definierten Weiterbildungsstandard zum „Dyskalkulie-Therapeuten nach BVL“ erarbeitet hat (https://www.bvl-legasthenie.de/dyskalkulie/therapieansaetze.html).
Informationen darüber, wie auch gezielte Nachhilfe in Fällen von Dyskalkulie unterstützend wirken kann, finden Sie etwa auf der Webseite des ganzheitlich arbeitenden Nachhilfeinstituts „die hauslehrer“ (https://www.hauslehrer.de/leistungen-angebot/dyskalkulie/). Hier werden Angebote und Förderprogramme angeboten, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit Dyskalkulie zugeschnitten sind. Es ist wichtig, dass Eltern und Lehrer zusammenarbeiten, um den betroffenen Kindern die bestmögliche Unterstützung zu bieten und ihnen zu helfen, ihre Stärken zu entfalten und erfolgreich zu lernen.
Unabhängig davon, für welche Art der Förderung Sie sich entschieden haben, erfordert die Förderung von Kindern mit Dyskalkulie spezielle Ansätze und Materialien.
Wichtige Schritte in der Förderung und Therapie sind:
- Die Förderung des Zahlen- und Mengenverständnisses: Ein grundlegendes Ziel ist der Aufbau eines sinnvollen Zahlen- und Mengenbegriffs. Das Erfassen der Struktur des dekadischen Stellenwertsystems ist dabei von zentraler Bedeutung.
Die oben schon erwähnte Division ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, ein Verständnis für Relationen zu entwickeln. Es kann für das Verständnis von Relationen etwa hilfereich sein, wenn Kinder die Bewegungsgesetze der Division verstehen lernen. Sie sollten anhand konkreter Beispiele lernen, dass der Quotient kleiner wird, wenn der Divisor größer wird („In kinderreichen Familien bekommt jedes Kind weniger…“) und dass der Quotient größer wird, wenn bei gleichem Divisor der Dividend größer ist. Oder auch die aus der Bruchrechnung bekannte Quotientengleichheit, die durch die gleichförmige Veränderung von Dividend und Divisor erhalten bleibt. Diese Konzepte helfen, ein tieferes Verständnis für die Struktur mathematischer Operationen zu entwickeln.
- Die Erarbeitung und Automatisierung sinnvoller, nicht-zählender Rechenstrategien: Es ist wichtig, dass Kinder mit Dyskalkulie lernen, Rechenstrategien zu verwenden, die nicht auf zählenden Ansätzen basieren. Diese Strategien sollten automatisiert werden, um eine flüssige Anwendung im Alltag zu ermöglichen.
- Spezielle Übungsaufgaben bei Dyskalkulie: Gezielte Übungen, die auf die spezifischen Schwierigkeiten der Kinder eingehen, sind ein zentraler Bestandteil der Förderung. Diese Übungen sollten darauf abzielen, das Verständnis grundlegender mathematischer Konzepte zu vertiefen und praktische Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
- Sinnvoller Einsatz von Anschauungsmaterial: Materialien wie Würfel, Klötze oder visuelle Hilfsmittel können helfen, abstrakte mathematische Konzepte greifbar zu machen. Der sinnvolle Einsatz solcher Materialien unter Anleitung eines Pädagogen oder Therapeuten sollte jedoch immer darauf abzielen, das Verständnis zu vertiefen und nicht nur mechanisches Ausführen zu fördern.
Schlussfolgerung: Ein langer, aber lohnender Weg
Kinder mit Dyskalkulie benötigen eine besondere Förderung und Unterstützung, um ihre mathematischen Fähigkeiten zu entwickeln. Dieser Prozess ist oft langwierig und erfordert viel Geduld und Einfühlungsvermögen von Eltern, Lehrern und Therapeuten. Mit der richtigen Unterstützung können Kinder jedoch lernen, ihre Herausforderungen zu meistern und ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Und es besteht durchaus Anlass zur Hoffnung: Besonders bei entsprechender Förderung vermindern sich die Störungen mit dem Älterwerden der Kinder zunehmend, wenn auch geringere Defizite oft im Erwachsenenalter zurückbleiben.
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Verwendete Literatur
https://www.bvl-legasthenie.de/dyskalkulie/tipps-fuer-eltern.html
BUNDESVERBAND Legasthenie & Dyskalkulie e.V. (BVL): Tipps für Eltern / Wie können Sie Ihr Kind unterstützen
Grubitzsch/Relixius (Hrsg.). Psychologische Grundbegriffe. Mensch und Gesellschaft in der Psychologie. Reinbek 1987 Rowohlt Verlag
https://www.icd-code.de/
ICD-Code
Kopf und Zahl. Journal des Vereins für Dyskalkulie und Lerntherapie e.V. München 19. Ausg., Frühjahr 2013
Schulz, A. Praxisbuch Rechenschwäche. Ein Ratgeber für Eltern. Stuttgart 2003 Urania Verlag
Stangl, W. (2024, 21. Juli). Dyskalkulie. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/85/dyskalkulie#Fruehe_Foerderung_von_Kindern_mit_Rechenschwaeche